Durchbruchsinnovationen sind Teil unseres Lebens. Die letzten anderthalb Jahre sind geprägt durch die Covid-19 Pandemie. Sie hat rasante Veränderungen bewirkt. Homeoffice wurde eine Sache. Und dadurch erhielten Zoom, MS Teams und weitere Kommunikationskanäle auftrieb. Daneben hat die Pandemie einer neuen Technologie Aufmerksamkeit gebracht. Und Marktanteil. Die Rede ist von mRNA-Impfstoffen. Die Idee körpereigenen Zellen zur Produktion von Antigenen zu benutzen ist Revolutionär. Auf den ersten Blick erscheint sie schlecht. Doch gibt es in Europa zurzeit zwei zugelassene mRNA-Impfstoffe: Von Moderna und BioNtech. Die zugrunde liegende mRNA Technologie ermöglicht viele andere Anwendungen.
Die Einführung der Impfstoffe stellt eine Innovation dar. Eine neue Lösung für ein altes Problem sind auch das Apple iPhone oder das Abo Modell für Rasierklingen des Dollar Shave Clubs. Diese spezifische Kombination von Kundenproblem und neuer Lösung ist typisch für Druchbruchsinnovationen. Im Englischen Breakthrough Innovation genannt.
Inhalt
- 1 Was sind Durchbruchsinnovationen bzw. Breakthrough Innovation
- 2 Die Evolution als Vorbild für Durchbruchsinnovationen bei Moderna
- 3 Varianz schaffen mit der „Was ist wenn?“ Hypothese
- 4 Selektion oder die Hypothese testen
- 5 Was kann aus dem Vorgehen von Moderna für die Entwicklung von Durchbruchsinnovationen gelernt werden?
- 6 Fazit zur emergenten EntdeckungFazit zur emergenten Entdeckung als Prozess für Durchbruchsinnovationen
Was sind Durchbruchsinnovationen bzw. Breakthrough Innovation
Was sind nun Durchbruchsinnovationen? Nach SATELL erfordern sie ein gut verstandenes Kundenproblem mit einem schlecht definierten Lösungsraum. Dem Unternehmen ist das Kundenproblem also gut bekannt, allerdings wurden bis jetzt nur unzureichende Lösungen entwickelt. Die bisherigen Ansätze fußen in ungeeigneten Fachbereichen. Ein Perspektivwechsel ist nötig. Nur so kann die optimale Lösung und damit eine Durchbruchsinnovation geschaffen werden.1SATELL, Greg. The 4 types of innovation and the problems they solve. Harvard Business Review, 2017, 11. Jg., S. 2-9.
Das Beispiel eines Chipherstellers
Ein Beispiel gibt SATELL: Ein Chiphersteller suchte eine Möglichkeit mit einem Sensor Schadstoffe in sehr geringen Konzentrationen unter Wasser aufzuspüren. Das Problem wurde nicht von einem Chipdesigner gelöst, sondern von einem Meeresbiologen. Muscheln öffnen ihre Schale bei sehr geringen Schadstoffkonzentrationen. Ein Sensor muss also nur erkennen, wenn sich die Muscheln öffnen. Ein Perspektivwechsel hat diese Lösung ermöglicht.
Mit dem Bekannten brechen und neue Werte schaffen
Alle Durchbruchsinnovationen sind dabei diskontinuierlich und wertschaffend. Das neue Lösungsfeld, ob aus Wissenschaft, Technik, Design, Wirtschaft, verändert die Erwartung. Und verschieb das für möglich gehaltene. Wertschaffend ist die Innovation nicht nur für das Unternehmen. Die digitale Fotografie hat soziale Medien und Netzwerke in ihrer heutigen Form ermöglicht.2Afeyan, Noubar; Pisano, Gary P. What Evolution can teach Us about Innovation: Lessons from the life sciences. Harvard Business Review, 2021, September–October.
Kein Aha-Moment, sondern langfristige Arbeit
Im Prinzip sind Durchbruchsinnovationen bzw. Breakthrough Innovations die klassische Innovation. Neue technologische Möglichkeiten eröffnen neue Produkte. So stellen sich Menschen Innovation vor. Die Diskontinuität als Ausgangspunkt der schöpferischen Zerstörung nennt schon SCHUMPETER. Dabei ist keins der angesprochenen Beispiele ein Übernachterfolg oder Ergebnis eines Geniestreichs. Sie sind langfristig Vorhaben mit beträchtlichen Risiken. Häufig wird externes Fachwissen benötigt. Da die Lösung außerhalb aller Erfahrungswerte liegt lässt sich der Erfolg nicht vorhersagen. Erfolgreiche Durchbruchsinnovation verschieben den Bereich des Machbaren. 3FRANCIS, Robin; HÄRENSTAM, Fredrik; EAGAR, Rick. Organizing for Breakthrough Innovation. Arthur D. Little Prism, 2015, 1. Jg., S. 12-29. https://www.adlittle.com/sites/default/files/prism/Breakthrough_Innovation_9.pdf
Die Evolution als Vorbild für Durchbruchsinnovationen bei Moderna
Bei Moderna folgt der Innovationsprozess dem Prinzip der emergenten Entdeckung. Ein aktueller Artikel in der HBR beschäftigt sich mit diesem.4Afeyan, Noubar; Pisano, Gary P. What Evolution can teach Us about Innovation: Lessons from the life sciences. Harvard Business Review, 2021, September–October. Einer der Mitgründer von Moderna hat dazu auch ein Interview gegeben. Die emergente Entdeckung ist angelehnt an die biologische Evolution. Viele kleine Schritte führen zum Ziel. Häufig sind die ersten Iterationen von Durchbruchsinnovationen nicht gut. Moderna fokussiert sich zu Beginn nicht auf ein spezifisches Problem. Sie starten mit hochspekulativen, scheinbar unvernünftigen Annahmen. Die Verfolgung dieser Annahmen ist das Gegenteil einer „strikten Ideenauswahl“. Diese ist einer der Erfolgsfaktoren für Innovationen.
Die emergente Entdeckung funktioniert als Zusammenspiel von Variantenentwicklung und Selektion.
Kleiner Exkurs zur Evolution
Unter Evolution versteht man die Veränderung der vererbten Merkmale einer Population zwischen den Generationen. Getrieben wird sie durch die Entstehung neuer Varianten im Erbgut. Ein Mechanismus ist die Mutation der Keimzellen eines Individuums. Die neue Variante wird dann an die Nachkommen übertragen. Ein anderer Mechanismus stellt die Rekombination bei der Fortpflanzung dar. Vereinfacht ausgedrückt stammt das halbe Erbgut eines Nachkommen von einem Elternteil. Die andere Hälfte geht auf den anderen Teil zurück.
Die neuen Varianten werden dann einem Selektionsdruck ausgesetzt. Das heißt, dass sich vor allem die Variante weiter Vererben, die einen Vorteil beim Überleben und Fortpflanzen haben.
In Mosambik kann man die Auswirkungen der Evolution beobachten. Im Bürgerkrieg stieg die Anzahl an getöteten Elefanten an. Sie wurden wegen ihrer Stoßzähne gejagt. Danach ließ sich eine ungewöhnlich hohe Nachkommenschaft ohne Stoßzähne beobachten.
Einen anderen Mechanismus stellt der sogenannten Gendrift dar. Dieser ist ein statistischer Prozess. Fortpflanzung ist eine Stichprobe aus dem Genpool. Vor allem bei kleinem Stichprobenumfang kann dies zu einer Veränderung des Genpools führen. Dieser Prozess hat keinen Zusammenhang mit der Selektion. Für den Innovationsprozess spielt dieser Mechanismus keine Rolle.
Varianz schaffen mit der „Was ist wenn?“ Hypothese
Wie beginnt bei Moderna Moderna der Prozess für eine Durchbruchsinnovation? Es wird eine neue Variante formuliert, die anschließend getestet wird. Das Unternehmen startet dafür mit einer Hypothese. Sie ist spekulativ und soll erforscht werden. Sie bricht mit dem Status quo. Die Hypothese stellt die Frage: „Was ist wenn?“. Ziel ist nicht sie so schnell wie möglich zu bestätigen oder zu verwerfen. Die Hypothese soll durch neue Erkenntnisse überarbeitet und angepasst werden.
Innerhalb des Unternehmens muss eins dabei klar sein: Es geht um die Hypothese und um ihre Prüfung und Überarbeitung. Wer welche Idee hatte und wer zu einer Überarbeitung beigetragen hat ist unwichtig. Es ist Aufgabe aller gemeinschaftlich an ihr zu arbeiten.
Fachlich motiviert, aber nicht problembezogen
Dafür muss die Hypothese auf solidem Fachwisse beruhen. Es geht nicht um unwissenschaftliche Annahmen oder Esoterik. Sie muss von Fachleuten verschiedener Fachrichtungen erarbeitet werden. Dabei muss sie nicht auf ein spezifisches Problem gemünzt sein. „Was wäre, wenn mRNA als Medikament genutzt werden könnte?“ hat mit der letztendlichen Anwendung als Impfstoff wenig zu tun.
Klar formuliert und als Ausgangspunkt geeignet
Wichtig ist dabei die Hypothese nicht wischi-waschi zu formulieren. Sie muss als Leitfaden für Experimente und Überprüfungen herhalten. „Unser Flugzeug kann ohne fossile Brennstoffe auf Langstrecken eingesetzt“ ist eine weniger geeignete Hypothese als „Unser Flugzeug wird mit synthetischem Kerosin betrieben. Die dafür nötigen Kohlenstoff- und Wasserstoffatome gewinnen wir aus der Luft. Die für die Synthese nötige Energie gewinnen wir aus 60% Solar- und 40% Windenergie.“ Letztere hat verschiedene anknüpfpunkte zur Überprüfung.
Externe Experten als Korrektiv
Die Hypothese kann und sollte mit externen Experten diskutiert werden. Deren Input kann zu einer Weiterentwicklung führen. Starke Kritiker haben oft lohnende einwende. Da die Hypothese mit dem Status quo bricht, ist mit viel Gegenwind zu rechnen.
Selektion oder die Hypothese testen
Steht die Hypothese muss sie geprüft werden. Dafür sind zuerst „Killer Experimente“ nötig. Diese sollen schnell und kostengünstig grundlegende Fehler oder Fehleinschätzungen aufzeigen, die der Umsetzung der Hypothese im Weg stehen. Überlebt die Hypothese diesen ersten Angriff werden die kleinen Probleme und Herausforderungen angegangen. Die Hypothese wird so ständig weiterentwickelt und angepasst.
Um bei diesem Vorgehen noch in einem vernünftigen Kostenrahmen zu operieren, muss jedes Experiment so kostengünstig wie möglich gestaltet werden, um das größtmögliche Wissen zu erlangen. Der Wissensgewinn pro ausgegebenem Geld muss maximiert werden.
Dieses Vorgehen widerspricht dem von den meisten Unternehmen gelebtem. Dort werden Ideen radikal selektiert und zur Risikominimierung verschiedene Ideen parallel verfolgt. Häufig geht es mehr um kurzfristige Gewinne als um einen langfristigen Plan.
Was kann aus dem Vorgehen von Moderna für die Entwicklung von Durchbruchsinnovationen gelernt werden?
Moderna wurde 2010 gegründet um wies Anfang 2021 zum ersten Mal einen Quartalsgewinn aus. Im Vorjahr wurden im gleichen Zeitraum noch 124 Millionen US$ Verlust eingefahren. Solch eine lange Zeit ist nach meiner Erfahrung in keinem bestehenden Unternehmen denkbar. Wie kann solch ein Vorgehen also funktionieren?
Moderna ist Teil eines größeren Ganzen
Moderna ist Teil von Flagship Pioneering. Dies ist ein Risikokapitalgeber für Biowissenschaften, der Unternehmen finanziert und gründet. Auf der Website ist das Vorgehen für Durchbruchinnovationen schön bebildert. Flagship benutzt das beschriebene Verfahren der emergenten Entdeckung in allen finanzierten Unternehmen. Flagship operiert dabei getreu dem bekannten Motto: „Viele Ideen finanzieren. Eine erfolgreiche wird die Verluste der anderen mehr als kompensieren.“ Im Prinzip trug Moderna und seine Anteilseigner das Risiko der mRNA Technik, während Flagship ein antifragiles Portfolio aus mehreren Unternehmen hält.
Die Kollegen von Arthur D. Little untersuchten 2015 die Organisation von Unternehmen, die erfolgreiche Durchbruchsinnovationen hervorgebracht haben.5FRANCIS, Robin; HÄRENSTAM, Fredrik; EAGAR, Rick. Organizing for Breakthrough Innovation. Arthur D. Little Prism, 2015, 1. Jg., S. 12-29. https://www.adlittle.com/sites/default/files/prism/Breakthrough_Innovation_9.pdf Dabei stellten sie fest, dass bei großer Komplexität der zugrundeliegenden Technologie und einem hohen Neuheitsgrad unabhängig operierende Einheit innerhalb eines Unternehmens vorteilhaft sind. Diese sind in der Regel direkt dem CEO unterstellt. Aus Sicht von Flagship Pioneering ist Moderna genau das: eine unabhängige Einheit. Nur das in diesem Fall sie nicht unternehmensintern ist.
Unternehmenskultur
Gleichzeitig besitzt Moderna offensichtlich eine sehr variable und anpassungsfähige Unternehmenskultur. Von der Veröffentlichung der genetischen Information des Covid-19 Virus hat Moderna wohl zwei Tage gebraucht, um den Impfstoff zu entwickeln. Welches große Unternehmen – oder auch mittlere – hat solch eine Reaktionszeit. Sowohl BioNTech als auch Moderna reagierten außergewöhnlich schnell auf die Pandemie und sahen das Potenzial in ihrer mRNA Technologie.
Fazit zur emergenten EntdeckungFazit zur emergenten Entdeckung als Prozess für Durchbruchsinnovationen
Das beschriebene Vorgehen der emergenten Entdeckung klingt erstmal schlüssig. Allerdings war der finanzielle Aufwand und die Zeitspanne bis zur Profitabilität von Moderna riesig. Ein bestehendes Unternehmen muss solch ein Kommittent erstmal eingehen können. Moderna und BioNTech sind beides StartUps, die noch auf der Suche nach ihrem Product-Market Fit waren. Als sich die Chance durch die Covid19-Pandemie auftat haben beide in unglaublich schneller Zeit das Potenzial erkannt und reagiert. Dies ist zu bewundern.
Auch die Konzentration auf ungewöhnliche Ideen und großer Herausforderungen ist vorbildhaft. Eine auf den ersten Blick schlechte Idee, den eigenen Körper zur Produktion von Medikamenten nutzen, ist im Kern doch gut. Solche Ideen setzen einen von der Konkurrenz ab und schaffen einen blauen Ozean für das Unternehmen. Das von Graham Horton entwickelte vier T-Modell stellt dies nochmal eindeutig dar. Auf den ersten Blick schlechte Idee, die im Kern gut sind, stellen die wahren Schätze unter den Ideen dar.
Ich mag die Idee der emergenten Entdeckung die Evolution als Vorbild zu nehmen. Die Menschheit kennt keine bessere und ausdauerndere Erfinderin als die Natur. Doch was unterscheidet das Vorgehen von Moderna von dem jedes anderen agilen Innovationsprozess? Versuch und Iteration sind bekannte und erfolgreiche Ansätze. Nur ist die Hypothese viel weiter von Status quo entfernt, als dies bei vielen bestehenden Unternehmen zugelassen wird.
Auch die Ausdauer ist bewundernswert. Wer kennt nicht die eingestellten Projekte, die für einen Markt in fünf Jahren gedacht sind. Und nach einem eingestellt werden, da es noch keinen Markt gibt. Gerade bei langfristigen Projekten ist eine stabile strategische Ausrichtung wichtig.
Quellen
- 1SATELL, Greg. The 4 types of innovation and the problems they solve. Harvard Business Review, 2017, 11. Jg., S. 2-9.
- 2Afeyan, Noubar; Pisano, Gary P. What Evolution can teach Us about Innovation: Lessons from the life sciences. Harvard Business Review, 2021, September–October.
- 3FRANCIS, Robin; HÄRENSTAM, Fredrik; EAGAR, Rick. Organizing for Breakthrough Innovation. Arthur D. Little Prism, 2015, 1. Jg., S. 12-29. https://www.adlittle.com/sites/default/files/prism/Breakthrough_Innovation_9.pdf
- 4Afeyan, Noubar; Pisano, Gary P. What Evolution can teach Us about Innovation: Lessons from the life sciences. Harvard Business Review, 2021, September–October.
- 5FRANCIS, Robin; HÄRENSTAM, Fredrik; EAGAR, Rick. Organizing for Breakthrough Innovation. Arthur D. Little Prism, 2015, 1. Jg., S. 12-29. https://www.adlittle.com/sites/default/files/prism/Breakthrough_Innovation_9.pdf